Hand auf das erkaltete Herz, die seit dem letzten Liebesschwur erblassten Finger in alle ungeleckten Wunden gelegt: Wann fühlten Sie sich das letzte Mal von einer Popballade wirklich ergriffen? Wie lang ist es her, seit Ihnen die Kehle eng wurde, nur weil ein Lied gegen die vier Wände Ihres Inneren prallte? Diese leidenschaftslose Zeit findet mit dem australischen Quartett Naked Raven ihr Ende, dem es mit Harm's Way gelang, ein Album voller trauriger Lieder aufzunehmen, ohne Opfer der Pathos-Falle zu werden. Und auch die Sting'sche Akademisierung des Popsongs wird nicht vorangetrieben, was eine Erwähnung wert ist, da alle Beteiligten mit Ausnahme von Komponist und Gitarrist Russ Pinneys eine klassische Ausbildung absolvierten: Sängerin und Violinistin Erica Grundell studierte Geige, Kate Mazoudier meisterte das Cello und Perkussionist James Richmond lernte während seines Studiums so viel kennen und spielen, dass allein die Erwähnung seines Instrumentariums die Credit-Line von Harm's Way überfrachtet. Doch obwohl Besetzung und Sound auf die Kammermusik verweisen, obwohl mit einer Präzision gespielt wird, die andernorts oft jeden Versuch der Gefühlserzeugung ad absurdum führt, legen Naked Raven ihr Innenleben in aller Aufrichtigkeit bloß. Dass darauf nicht herum getrampelt wird, liegt zum einen an den von Aphorismen und elliptischen Sätzen in ihrer Verletzlichkeit nur notdürftig verhüllten Texten von Russ Pinney, denen sich Erica Grundell mit aller Emphase nähern kann. Zum anderen führt die Verbindung zweier höchst unterschiedlicher Ausgangspunkte -- hier unverstelltes Autodidaktentum, dort akademisch fundiertes Wissen -- die Musik von Naked Raven in ein eigenes Territorium. Dort definieren sie ganz allein, was kitschig und verbraucht ist und wo weniger ausgetretene emotionale Pfade zu finden sind. --Björn Döring