Den Mut zum großen Wurf gewinnt man in immer kurzlebigeren Zeiten nur hoch oben, über allen Dingen. Der Begriff „Abgehoben“ ist im deutschen Sprachgebrauch nicht eben positiv besetzt, im Fall des österreichischen Schlagzeugers Alfred Vogel macht er nun aber ganz anders Sinn. Vogel hebt vom Boden ab, betrachtet die Welt von oben. Er schärft seinen Blick fürs Detail, erlangt aus seinem Blickwinkel dennoch eine fast träumerische Gelassenheit hinsichtlich des irdischen Laufes der Dinge. Er hat zwar den gesamten Horizont vor Augen, kann jedoch im Schwebezustand exakt ausspähen, worauf er sich gerade konzentrieren will. Seine Musik ist daher gleichermaßen ganzheitlich wie kleinteilig. Je nach Bedarf lässt er sich von warmen Luftströmen höher tragen oder sinkt. Immer wieder muss er seinen Zoom neu einstellen, um das Wesentliche nicht aus dem Blick zu verlieren. Diese Wechsel des Bildausschnittes innerhalb der einzelnen Stücke aber auch zwischen den Tracks machen die Dynamik seiner „Vogelperspektive“ aus. Nun könnte man voraussetzen, dass größerer Abstand auch ein höheres Maß an Objektivität schafft. Bei Alfred Vogel ist das Gegenteil der Fall. Je weiter er sich vom Boden entfernt, desto subjektiver wird sein Blick, sein Anteil am Gesamtgeschehen. Für jedes Stück sucht er sich genau die Musiker aus, mit denen er seinem akustischen Blickfang noch mehr Schärfe und Kontur verleihen kann. Eine feste Besetzung gibt es nicht, wohl aber einen übergreifenden Spirit, der alle Beteiligten vereint. Es ist die Fähigkeit, loslassen zu können und die irdischen Koordinaten für Klangkunst, wie sie uns seit Jahrzehnten eingehämmert werden, hinter sich zu lassen. Bevor Vogel sich dem Jazz verschrieb, war er im Funk und Rock zuhause, Musik voller Soul und emotionaler Nähe. Soul ist es auch, was Vogel bei seinen Musikern voraussetzt. John Schröder (Der Rote Bereich, Erdmann 3000), Billy Martin (Medeski Martin & Wood, Lounge Lizards), Kalle Kalima (Johnny La Marama, Baby Bonk), Christian Lillinger (Hyperactive Kid, Grünen), das österreichische Enfant Terrible David Helbock, der schweizerische Routinier Wolfgang Zwiauer und noch viele andere begleiten Vogel auf seinem Überflug. Sie alle zeichnet die Fähigkeit aus, den jeweils kürzesten Weg zu suchen, um einen Gedanken zu kommunizieren. Wie ein Vogel, der hoch über einer Szenerie einen Punkt fixiert und dann innerhalb von Sekunden im direkten Zugriff in die Tiefe stürzt. Wird Avantgarde für gewöhnlich mit einer gewissen kreativen Anspannung gleichgesetzt, so finden wir auf Vogels CD eher eine durch die Höhe, das Schweben und die Distanz des Nestes ausgelöste Gelassenheit, die den Blick, das Ohr, die Sinne freimacht. Selten ist komplexe Musik mit einer derartigen Leichtigkeit angeboten worden. Alfred Vogel hat mit vielen großen Musikern unterschiedlichster Genres gearbeitet, doch nach eigenem Bekunden war die gemeinsame Zeit, die man in und neben der Musik verbrachte, wichtiger, als was man tatsächlich zusammen spielte. Diese Haltung zahlt sich auf „Vogelperspektive“ aus. Eine Gruppe von Musikern nähert sich in unterschiedlichen Konstellationen einander an und entfernt sich wieder. Jeder zieht seine Kreise, doch die Flugbahnen überlappen. Unabhängig von der jeweiligen personellen Dramaturgie bleibt da ein Gefühl des Gemeinsamen, das die Spuren aller Beteiligten auch hörbar macht, wenn sie gerade nicht am Zuge sind.Alfred Vogel hat seinen musikalischen Fundus an unterschiedlichsten Orten, unter anderem in New York, dem Mekka der Urbanität und der Wiege der Jazz-Avantgarde angereichert. Doch der selbstbewusste Klangflugkünstler leistet sich den Luxus erfrischender Provinzialität. Er braucht nicht die kreative Enge der Großstadt, sondern schöpft die Exklusivität seiner Perspektiven im österreichischen Vorarlberg bis zur Neige aus. Seine entspannte Draufsicht auf die Welt der Klänge hat nicht zuletzt mit einem Gefühl der Berge zu tun, das die Vertikale voraussetzt. Vogel erbringt aus seiner Perspektive den Beweis, dass Avantgarde keineswegs ein Klangsynonym für die Metropole sein muss. In der weiten Frische des Abgelegenen kann der akustische Blick zuweilen wesentlich klarer, unverstellter und offener für Neues sein als im Häusermeer. „Vogelperspektive“ ist die erste von fünf CDs, die gemeinsam einen Zyklus ergeben. Auf vier weiteren Alben werden einzelne Besetzungen, die hier vorgestellt werden, ausführlich gefeaturet. Vogel hat die Ingredienzien für seinen Zyklus, der Ende 2012 abgeschlossen sein wird, über einen langen Zeitraum akribisch zusammengetragen. „Vogelperspektive“ ist insofern der überaus kurzweilige und anregende Auftakt eines Buches, dessen Kapitel Anfang nächsten Jahres mit CD Zwei fortgesetzt werden. Es ist ein großer Wurf, wie man ihn im Zeitalter von Komprimierung und MP3-Häppchen nur noch selten hört.